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Mieke Roscher/Ulrike Heitholt, Universität Kassel:

Multiperspektivische Aushandlungsprozesse. Der Umgang mit der Maul- und Klauenseuche zwischen 1890 und 1945 in Deutschland als interspezifische Praxis

Die Ausbrüche der Maul- und Klauenseuche in Deutschland von beispielsweise 1892, 1911 oder 1938 markieren nicht nur gesundheitspolitische Krisenmomente, sondern eröffnen auch Einblicke in vielschichtige gesellschaftliche, agrarwirtschaftliche und tierzuchtbezogene Transformationsprozesse. Dieser Beitrag untersucht den Umgang mit der Krankheit und den Tieren im Zeitraum von 1890 bis 1945 in einem multiperspektivischen Zugang, der staatliche Interventionen, wissenschaftliche Entwicklungen, ökonomische Interessen und landwirtschaftliche Praktiken zwischen Traditionen und wissenschaftlich basierten Innovationen gleichermaßen berücksichtigt. Während der Staat im Zuge der Modernisierung und zunehmenden Professionalisierung des Veterinärwesens immer mehr auf wissenschaftlich fundierte Impftechniken setzte, manifestierten sich bei vielen Landwirt:innen ambivalente Haltungen. Die daraus resultierenden Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen Akteuren, wissenschaftlichen Institutionen und dezentral organisierten bäuerlichen Interessensvertretungen führten zu komplexen Diskursen, in denen Impfung als Instrument moderner Tiergesundheitspolitik zugleich als Eingriff in traditionelle Zucht- und Ausstellungsgewohnheiten begriffen wurde. Dabei wird deutlich, wie die großen Epidemien jeweils als Katalysatoren fungierten, die den langfristigen Wandel in der Beziehung zwischen Staat, Wissenschaft und ländlicher Praxis vorantrieben und auch die Betrachtung der Maul- und Klauenseuche veränderten, von einer vorübergehenden, heilbaren Tierkrankheit hin zu einer rigoros zu bekämpfenden Seuche. Der vorgestellte multiperspektivische Ansatz trägt dazu bei, die Verflechtungen von wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen, politischen Regulierungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen im Umgang mit tierseuchenbedingten Krisen differenziert darzustellen und liefert somit einen Beitrag zur Debatte um Tierseuchen und ihre weitreichenden kulturellen, ökonomischen und sozialen Implikationen.