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Friederike Frenzel (Universität Münster):

„[A]lle die Wunder […], die Gott in irgend einen Wurm gehäufft hat“. Süßwasserpolypen in der Experimentalforschung der Aufklärung

"Was für ein Licht haben die Polypen in der Naturgeschichte sowohl als in der Philosophie angezündet?", fragt der Übersetzer Goeze einleitend zur 1775 erschienenen deutschen Übersetzung von Abraham Trembleys "Mémoires pour servir à l'histoire d'un genre de polypes d'eau douce". Obwohl die Entdeckung der Polypen, wie es in Johann Friedrich Blumenbachs "Abhandlung von den Federbusch-Polypen in den Göttingischen Gewässern" heißt, von Gottfried Wilhelm Leibniz bereits "geweissagt" wurde, wurden sie tatsächlich erst um 1703 von Antoni van Leeuwenhoek beschrieben. Mit Trembleys Veröffentlichung 1744 brach sich eine regelrechte Polypenmanie unter den Forschenden seiner Zeit Bahn: denn der gefundene Organismus konnte sich nicht nur selbstständig fortbewegen, sondern, in der Mitte auseinandergeschnitten, regenerierte er sich zu zwei kompletten Individuen. Die weite Verbreitung der Polypen wie auch die einfach zu imitierenden Experimente begünstigten die beliebte Praxis der Polypenversuche in Forschung wie Lehre. Dies ist im Kontext einer empirischen Wende in der Naturlehre des 18. Jahrhunderts zu sehen, in der Hypothesen von der Gelehrtenschaft vermehrt nur noch im Zusammenhang mit Beobachtungsdaten und wiederholt wie kontrolliert durchgeführten Experimenten akzeptiert wurden. Das Tierexperiment fand so eine neue Etablierung und Verbreitung.

Die derart gewonnenen empirischen Daten wurden umgehend wieder theoretisiert, etwa von Julien Offray de La Mettrie in seinem Konzept der "Tiermaschine". Blumenbach formulierte aus seinen Beobachtungen und Experimenten mit den unermüdlich sich regenerierenden Polypen heraus die Theorie des "Bildungstriebes", der dem Präformationismus zugunsten der Epigenese eine Absage erteilt.

Im Komplex einer sich neu formierenden und reglementierenden Naturwissenschaft der Aufklärung, die in ihrer modernen Ausformung stets anthropozentrisch argumentiert, nimmt der unscheinbare Süßwasserpolyp damit eine entscheidende, exemplarische Schnittstelle ein.